Zur Aktualität der Imperialismusfrage

Posted on 20. Dezember 2012 von

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gituvon Andreas Wehr

Symposium: Kapitalismus in der Krise – Eine Bestandsaufnahme (Hamburg, 17. November 2012)

Die Kriege gegen Afghanistan, Irak und in Libyen, die Intervention im syrischen Bürgerkrieg und permanente offene und verdeckte aggressive Akte westlicher Mächte im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika haben die Diskussion über den Imperialismus wieder aktuell werden lassen. In der Partei Die Linke hat das Wort Eingang in das Grundsatzprogramm gefunden. In der DKP gibt es eine Diskussion über die Aktualität der Leninschen Imperialismustheorie.

Doch was genau ist heute unter Imperialismus zu verstehen? Zunächst sollte man von der linken Untugend lassen, „alles Böse und Rückschrittliche in der Welt als Imperialismus zu bezeichnen“, wie es Peter Hess einmal so treffend formulierte. Und einzuräumen ist, dass “Versuche, diesen Begriff moralisierend, gewissermaßen als Schimpfwort zu verwenden, ihn zu Unrecht diskreditiert haben.“i In der gegenwärtigen marxistischen Diskussion wird zwar das Wort Imperialismus häufig benutzt, ohne dass er aber auf den Begriff gebracht wird, wenn darunter etwa lediglich die „offene und latente Gewaltpolitik zur externen Absicherung eines Regimes“ verstanden wird.ii

Die marxistische Imperialismustheorie

In der klassischen Imperialismustheorie gehen Marxisten von der Bewegung des Einzelkapitals aus. Grundlage dafür sind die Marxschen Gesetze über Zentralisation und Konzentration des Kapitals. In der Herausbildung dauerhafter Monopolunternehmen wird die entscheidende Veränderung vom freien Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus gesehen. Dieser Prozess wurde erstmals von Rudolf Hilferding in seinem Buch Das Finanzkapital 1909 und, darauf aufbauend, von Lenin 1916 in seiner Broschüre Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus beschrieben. Lenin lieferte damit der internationalen Arbeiterbewegung die theoretische Grundlage für das Verständnis des zur Zeit der Abfassung der Schrift tobenden Ersten Weltkriegs. Weitere grundlegende Arbeiten zum Verständnis dieses Epochenwechsels wurden von Rosa Luxemburg in ihrer Schrift Die Akkumulation des Kapitals und von Nikolai Iwanowitsch Bucharin mit Imperialismus und Weltwirtschaft vorgelegt.

Lenin übernimmt die Schlussfolgerungen Hilferdings: „Das 20. Jahrhundert ist also der Wendepunkt vom alten zum neuen Kapitalismus, von der Herrschaft des Kapitals schlechthin zu der Herrschaft des Finanzkapitals.“iii Die neue Zeit ist gekennzeichnet durch den Kapitalexport: „Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden.“iv Lenin konstatiert: „Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch.“v Eine auch noch heute aktuelle Schlussfolgerung.

Tatsächlich stellt die Herausbildung von Monopolen im Übergang zum 20. Jahrhundert den entscheidenden Einschnitt in der Anpassung der kapitalistischen Eigentumsstruktur an die veränderten Bedingungen der Konkurrenz dar. In einer aktuellen Analyse heißt es dazu: „Diese Monopole verfügen aufgrund ihrer Kapitalmacht über die Möglichkeit, sich mittels ökonomischer und außerökonomischer Gewalt einen höheren Profit anzueignen, indem sie die anderen Eigentümer in ihren Profit- und Eigentumsansprüchen dauerhaft reduzieren; sie bilden den Kern der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Industrieländer. Diese Strukturdifferenzierung des Gesamtkapitals hat sich in der historischen Entwicklung weiter ausgeprägt, so dass man von einer monopolistischen Entwicklungsstufe des kapitalistischen Eigentums, der gesamten kapitalistischen Produktionsverhältnisse – von Monopolkapitalismus sprechen kann.“vi Auf die Fähigkeit der Monopole, aufgrund ihrer Machstellung die Eigentumsansprüche anderer Kapitalisten als auch die der Lohnabhängigen dauerhaft zu reduzieren, weist auch Gretchen Binus hin: „Das Spezifische der Machtausdehnung (der Monopole, A.W.) besteht in Enteignungsprozessen größten Ausmaßes. Kennzeichen dafür sind die verstärkte Ausgrenzung der kleinen und mittleren Kapitale von der Nutzung des ökonomischen Potentials, das hohe Niveau von Insolvenzen und vor allem die rigorose Enteignung der Beschäftigten von ihren Einkommen durch Verlust der Arbeitsplätze.vii

Im Imperialismus kommt es zu einer weitgehenden Indienstnahme des Staates durch die Monopole, zur Herausbildung eines Systems des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Der zwischenimperialistische Konkurrenzkampf der monopolkapitalistischen Staaten wird zur Ursache der großen Kriege. Die Leninsche Darstellung des Imperialismus wurde für ganze Generationen von Marxisten zum Schlüsselwerk für das Verständnis des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Nach dem zweiten Weltkrieg setzen sich unterschiedlichste marxistische Theoretiker, der Traditionslinie dieser Theorie folgend, in der Sowjetunion, in der DDR, in Frankreich (Paul Boccara) aber auch in der Bundesrepublik (Jörg Huffschmid) intensiv mit der Rolle des Monopols und der Bedeutung des Staates im Imperialismus auseinander. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus wird zum Schlüssel für das Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus, nicht nur in den kommunistischen Parteien sondern auch unter linken Sozialdemokraten.

Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat mit den Bankenrettungspaketen anschaulich gezeigt, wie entscheidend die staatliche Intervention zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise heute weiterhin ist. Lucas Zeise sagt: „Die Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (kurz Stamokap), wonach der Staat die Mängel des Kapitalismus auch mit ökonomischen Mitteln auszubügeln hat, erweist sich in der Krise als präzise Beschreibung.“viii

Epochenbegriff Imperialismus

Imperialismus ist aber nicht nur ein ökonomischer bzw. politischer sondern auch ein geschichtstheoretischer Begriff. Lenin spricht hier von der „imperialistischen Vergesellschaftung“. Was ist damit gemeint? Der Übergang vom klassischen Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus und seine Verquickung mit staatlicher Macht ist Ausdruck der erreichten, hohen Vergesellschaftungsform der Produktivkräfte. Dieser Übergang „erscheint zum einen in der kritischen Gestalt des Imperialismus, zum anderen im revolutionären Prozess des Sozialismus und schließlich in der antagonistischen Einheit beider.“ix Fast gleichzeitig mit der Herausbildung des Imperialismus betritt auch seine bestimmte Negation die Welt: „Der notwendig gewordene qualitative Übergang zu sozialistischen Produktionsverhältnissen wurde politisch-real mit der Oktoberrevolution eingeleitet.“x Aufgrund dieser Durchbrechung des imperialistischen Weltsystems wurde davon gesprochen, dass sich der Kapitalismus in seiner „allgemeinen Krise“ befinde.

Heute, nach dem Scheitern des europäischen Sozialismus, müssen wird uns mit der Frage befassen, ob weiterhin von einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ gesprochen werden kann. Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass keine Gesetzmäßigkeit existiert, aus der sich der Übergang von Imperialismus in Sozialismus ergibt. Die Geschichte hat vielmehr gezeigt, dass der Imperialismus noch über erhebliche Potentiale verfügt, die es ihm ermöglichen Ausbrüche aus dem imperialistischen Weltsystem wieder rückgängig zu machen. Doch noch immer bekennt sich eine Reihe von Staaten zum sozialistischen Weg. Darunter ist China, das in absehbarer Zeit die stärkte ökonomische Macht der Erde sein wird. Von seinem weiteren Weg wird die Zukunft des Sozialismus im 21. Jahrhundert abhängen.

Von einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ kann aber weiterhin in dem Sinne gesprochen werden, dass der Imperialismus „Kapitalexport – und Ausdehnungsdrang über die Erdkugel hin und Reaktion, Antidemokratismus, Aufklärungs- und Liberalismuswiderruf nach innen in untrennbarer Einheit“ ist.xi Wir leben weiterhin im Zeitalter der „Zerstörung der Vernunft“ (Georg Lukács). Über einen solchen, auch die kulturellen Äußerungen einschließenden Imperialismusbegriff verfügte Peter Hacks. Heute untersucht Thomas Metscher die gegenwärtige Kunstproduktion im Zusammenhang mit der imperialistischen Epoche.xii Es gilt: „Die bürgerliche Gesellschaft zerbricht und fällt zurück, wenn sie ihre zivilisatorische Entwicklung nicht weitertreibt. Die Zeit der dialektischen Dynamik von Imperialismus und Sozialismus ist die Zeit einer weltgeschichtlichen Krise, in der über den Fortgang der Geschichte entschieden wird.“xiii Es ist daher angebracht, an einem die gesamte Gesellschaft umfassenden „Epochenbegriff Imperialismus“ festzuhalten.

Imperialismus und Krieg

Die Undurchführbarkeit von Weltkriegen zur Austragung zwischenimperialistischer Konkurrenz stellt ohne Zweifel die wichtigste Veränderung gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Begünstigt von den Anstößen die von der Oktoberrevolution ausgingen, hat sich die Welt grundlegend verändert, so dass selbst für eine so hoch gerüstete Militärmacht wie die USA eine militärische Austragung zwischenimperialistischer Konflikte nicht länger möglich ist. Und doch ist der zwischenimperialistischer Konkurrenzkampf damit nicht beendet:

Beendet ist auch nicht die Ausbeutung der Entwicklungsländer. „Um diese streiten sich alle Abteilungen des internationalen Finanzkapitals, alle großen Monopole und imperialistischen Länder, auch wenn die Beziehungen ehemaliger ‚Mutterländer‘ und deren frühere Kolonien nicht gänzlich an Bedeutung verloren haben.“xiv Der indische Marxist Aijaz Ahmad geht sogar von einem fortbestehenden Kolonialismus aus: „Außerhalb Europas kämpfen und finanzieren die USA viele Kriege, (…) aber nie um zu kolonisieren, sondern um abhängige Regime zu bekommen und die Welt für den Kapitalismus sicher zu machen.“xv Ins Visier genommen werden dabei Staaten, die sich als entwickelnde Länder dem globalen imperialistischen Regime zu entziehen suchen: „Die national-bürgerlichen Projekte wurden unterhöhlt, weil dieses Projekt einen hohen Grad an Protektionismus, Zöllen, privaten Ersparnissen und staatlich geleiteter Industrialisierung erfordert, bei wenig Spielraum für imperialistische Durchdringung.“xvi Die Strategien zur Unterhöhlung reichen dabei von der Unterstützung von zur Zusammenarbeit mit imperialistischen Ländern bereiten Fraktionen der nationalen Bourgeoisien über die Mobilisierung von Menschenrechtsbewegungen, die Förderung von Separatisten, von außen gelenkten Putschversuche bis hin zu militärischen Intervention. Was die „weicheren“ Methoden der Unterminierung angeht, so zeigen auch die europäischen imperialistischen Staaten und die EU hier immer wieder ihre hoch entwickelten Fähigkeiten.

Die imperialistischen Strategien erweisen sich als überaus erfolgreich. So konnten Länder wie Algerien, Ägypten, Indonesien, Sudan, Jugoslawien, der Irak und das vorislamistische Afghanistan mit friedlichen wie blutigen Mitteln von ihrem eigenständigen Entwicklungsweg abgebracht und in die imperialistische Weltordnung zurückgegliedert werden. Gegenwärtig ins Visier genommen werden die verbliebenen sozialistischen Länder China, Kuba, Vietnam und die Volksrepublik Korea. Erhöht wird der Druck gegenüber Staaten wie Iran, Myanmar und Syrien. In Lateinamerika sind es Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua, die bedroht werden. Auch Belarus, die Ukraine und Russland sind bei Unbotmäßigkeit regelmäßig Menschenrechtsattacken des Westens ausgesetzt. Domenico Losurdo spricht daher von einem andauernden „dritten Weltkrieg“, wobei darin die „ideologische Front“ eine herausragende Rolle spielt.xvii

Die Linke in den westlichen Ländern steht diesen imperialistischen Strategien oft hilflos und teilnahmslos gegenüber. Solidarität wird verweigert, da die bedrängten Regime ja so gar nicht den Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus entsprechen. Es wird nicht erkannt, dass die Anklage von Menschenrechtsverletzungen lediglich als taktische Waffe gegen unbotmäßige Länder eingesetzt wird, vergleichbare oder gar schlimmere Verletzungen in mit dem Westen verbündeten Ländern hingegen ignoriert werden.

Für Karl Kautsky stand hingegen noch fest, dass solche national-bürgerlichen Bewegungen gegen den Imperialismus zu verteidigen sind, und dass sie die Kampfbedingungen des westlichen Proletariats verbessern. Als Marxist schrieb er 1909: „Wir haben schon bemerkt, dass sich seit dem japanisch-russischen Kriege Ostasien und die mohammedanische Welt zur Abwehr des europäischen Kapitalismus erhoben. Sie bekämpfen damit denselben Feind, den das europäische Proletariat bekämpft. Freilich dürfen wir nicht vergessen, dass sie wohl denselben Feind bekämpfen, aber keineswegs zu demselben Zweck. Nicht um das Proletariat zum Sieg über das Kapital zu führen, sondern um dem auswärtigen Kapitalismus einen inneren, nationalen entgegenzusetzen, erheben sie sich. Wir dürfen uns darüber keinen Illusionen hingeben. So wie die Buren arge Leuteschinder, sind die Beherrscher Japans die schlimmsten Sozialistenverfolger, haben sich die Jungtürken auch schon gedrängt gefühlt, gegen streikende Arbeiter einzuschreiten. Wir dürfen also den Gegnern des europäischen Kapitalismus außerhalb Europas nicht kritiklos gegenüberstehen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass durch sie der europäische Kapitalismus und dessen Regierungen geschwächt werden und ein Element politischer Unruhe in die ganze Welt getragen wird. (…) Andererseits ist ihr Kampf für günstige Bedingungen einer nationalen kapitalistischen Produktionsweise gleichzeitig ein Kampf gegen das ausländische Kapital und dessen Fremdherrschaft, ein Kampf, den die Völker Westeuropas in den revolutionären Jahren 1789-1871 nicht zu führen hatten.“xviii

Es bedarf dialektischer Klugheit, um heute wieder das Niveau eines Kautskys vom Beginn des 19. Jahrhunderts zu erklimmen. Die gesellschaftliche Linke benötigt aber diese Klugheit, um die Vorbereitungen von Kriegen, die unter dem Banner der Verteidigung der Menschenrechte bereits heute vorbereitet werden, zu durchschauen und ihnen entgegentreten zu können.

 

 

i Peter Hess, Zur Aktualität der Imperialismustheorie, in: Z-Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 4, S. 73

ii Frank Deppe, David Salomon, Ingar Solty, Imperialismus, Köln 2011, S. 21

iii W.I. Lenin, Der Imperialismus, a. a. O., S. 229

iv W.I. Lenin, Der Imperialismus, a. a. O., S. 244

v W.I. Lenin, Der Imperialismus, a. a. O., S. 273

vi Horst Heininger, Monopolkapital und staatsmonopolistische Regulierung heute. Zur Aktualität der Herforder Thesen, in: Topos, Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 16, Dezember 2000, Imperialismus, S. 43 f.

vii Gretchen Binus, Konzernmacht in der Europäischen Union, Studie für die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Berlin, 2006, S. 6

viii Lucas Zeise, Die Herrschaft des Finanzkapitals ist angeknackst, in Z-Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 78, Juni 2009, S. 59

ix Wolf-Dieter Gudopp, Der Imperialismus und „die Periode der Weltkriege“, in: Marxistische Blätter 3-97, S.67

x Ebenda

xi Reinhard Opitz, Faschismus und Neofaschismus, Bonn 1996, S. 16

xii Vgl. Thomas Metscher, Imperialismus und Moderne. Zu den Bedingungen gegenwärtiger Kunstproduktion, Essen, o.A.

xiii Wolf-Dieter Gudopp, Der Imperialismus und „die Periode der Weltkriege“, a. a. O., S. 69

xiv Peter Hess, Zur Aktualität der Imperialismustheorie, a. a. O., S. 78

xv Aijaz Ahmad, Der Imperialismus unserer Zeit, a. a. O., S. 24

xvi Aijaz Ahmad, Der Imperialismus unserer Zeit, a. a. O., S. 11

xvii Domenico Losurdo, Flicht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, Essen, 2009, S. 49

xviii Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, a. a. O., S. 103 f.