Der Ukraine-Konflikt als Epochenzäsur*

Posted on 11. Oktober 2014 von


ukvon Daniel Bratanovic und Sebastian Carlens

Zur Herausbildung einer neuen Fraktion im deutschen Monopolkapital

Das Sperrfeuer der Desinformation, mit dem hiesige Medien in den letzten Wochen und Monaten den Denkapparat der Leute belegt haben, hat die Ursprünge des gegenwärtigen Ukraine-Konflikts vergessen gemacht – ganz zu schweigen davon, in welchen historischen und weltpolitischen Kontext die Angelegenheit angemessen einzuordnen wäre. Dabei markiert die Eskalation des Konfliktes um die Ukraine nicht weniger als den Beginn des Endes der nichtkriegerischen Neuverteilung Europas nach der Konterrevolution 1989–91. USA und EU halten den Faschismus als machtpolitische Option offenkundig wieder für nutzbar. Es handelt sich hierbei um eine Zäsur, auch weil Russland dem westlichen Streben nicht mehr tatenlos zusehen kann, ohne daran zu zerbrechen, während die westlichen imperialistischen Mächte kaum noch eine stabile und langfristige Strategie zustande bekommen – die zwischenimperialistischen Widersprüche eskalieren zusehends. Auch der deutsche Imperialismus bescheidet sich längst nicht mehr mit Brocken der Beute, die im Windschatten der USA abfallen, er agiert autonom und eigennützig. Ein Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins ist die allmähliche Herausbildung einer neuen, hier als „eurasisch“ bezeichneten Kapitalfraktion.

Das „neue“ Russland im Fokus der Imperialisten

Seit über 20 Jahren betreibt die US-geführte NATO eine Politik der Umzingelung Russlands, hat trotz anderslautender Beteuerungen ihren Herrschaftsbereich beständig nach Osten verschoben und erwägt nun, in Polen und im Baltikum dauerhaft Truppen zu stationieren. Derweil hat eine deutsch-geführte EU mit ihrer Osterweiterung die Grenzen Russlands erreicht und tangiert dessen Interessen unmittelbar. Eine Wiederauferstehung Russlands als ökonomische, politische, militärische Macht wollen beide Blöcke verhindern.

In der Ukraine ist die Grenze erreicht, an der Russland nicht mehr tatenlos zusehen konnte. Die Installation eines offen prowestlichen Regimes auf dem Putschwege, das sich faschistischer Mordbanden bedient und in die Tradition der Nazikollaborateure des Zweiten Weltkrieges stellt, konnte die herrschende Klasse Russlands nicht akzeptieren. Eine nationalistische und russenfeindliche Regierung zu Diensten der USA und/oder der EU sowie der damit zu erwartende Verlust der Krim (als seit rund 150 Jahren strategisch wichtiger Schwarzmeerhafen) hätte eine ganz neue Qualität des Rollback russischer Interessen bedeutet. Deswegen ist der Territorialgewinn in Gestalt der Krim kein offensiver, sondern ein defensiver Akt gewesen, möglicherweise gar mit ökonomischen Verlusten für die neuen Herren behaftet.

Das jedoch sollte allerdings nicht vorschnell zu der Annahme verleiten, in der Ukraine sei der Faschismus bereits an der Macht. Seine Vertreter von Swoboda, Rechtem Sektor und anderen Gruppierungen nehmen die – mit Reinhard Opitz beinahe klassisch zu nennenden – Aufgaben der terroristischen Einschüchterung, der Hilfspolizei-, der Straßenkampf- und der Bürgerkriegstätigkeit wahr. Das Regime in Kiew ist unzweifelhaft durch westliche Imperialisten, die selbst derzeit jedoch nicht faschistisch sind, eingesetzt. Wenn bereits von einem Faschismus an der Macht in der Ukraine gesprochen werden könnte, müsste zumindest ein Unterschied zwischen faschistischer Machtausübung in der Peripherie und in den Metropolen anerkannt werden: Letzterer dient der Vorbereitung und Durchführung eines imperialistischen Raubkriegs; im Falle der zertrümmerten und schwachen Ukraine sind die Ziele jedoch rein nach innen, auf Terror gegen Teile der eigenen Bevölkerung, gerichtet.

In der gegenwärtigen Phase besteht in der Frage des Antifaschismus für uns Interessengleichheit mit dem Vorgehen Russlands und dem der ukrainischen Antifaschisten. Russland ist das Land, das angegriffen wird, das dürfen Antimilitaristen und Antiimperialisten hierzulande nicht vergessen. Wir gewinnen nichts, wenn wir uns an der „Entlarvung“ dieser Länder, die die Medien der Herrschenden tagtäglich (und manchmal sogar mit marxistischem Vokabular) vornehmen, beteiligen.

In Anbetracht der Aggression der deutschen Bourgeoisie wäre das Heulen im Chor mit den „Menschenrechtlern“ von Grünen, Gesellschaft für bedrohte Völker oder Bild nichts weiter als Beteiligung an einer imperialistischen Intrige. Dies sagt jedoch noch nichts über den innenpolitischen Charakter der Russischen Föderation aus. Das Russland Putins ist kapitalistisch, es ist ein verhinderter Imperialismus in einer Defensivposition, das sich – aus der Situation der Umzingelung heraus – außenpolitisch oftmals objektiv antiimperialistisch verhält, dennoch aber eigenepolitökonomische Interessen verfolgt. Trotz nicht unerheblicher Diversifizierungsbemühungen in den letzten Jahren konzentriert sich die russische Wirtschaft noch immer auf die Ausbeutung primärer Rohstoffe, vornehmlich im Energiebereich. Diese Rentenökonomie ist mit der Staatsmachtweitgehend verschmolzen. Der Anteil am Welthandel ist vergleichsweise gering. Gleichwohl: Als kapitalistischer Staat betreibt Russland kapitalistische Außenpolitik und versucht, seine Einflusssphären zu sichern. Es benötigt an seinen Grenzen Staaten, die dem eigenen Anspruch auf Teilhabe am Weltmarkt nicht im Wege stehen.

Eine politische Erklärung lieferte Putin bei der Einweihung eines Denkmals für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs: „Im geistigen und moralischen Aufstieg unseres Volkes spielen auch heute die großartigen Werte der russischen Armee, die heldenhafte Erfahrung der Generation des Ersten Weltkriegs eine bedeutende Rolle. Sie durchschritten nicht nur lange die harten Erfahrungen des ersten globalen Weltkriegs, sondern auch die revolutionäre Umwälzung, den brudermörderischen Bürgerkrieg, der das Schicksal Russlands zerriss.“ Gegen die Bolschewiki gerichtet führte er aus: „Aber dieser Sieg wurde unserem Land gestohlen. Gestohlen durch jene, die zur Niederlage des eigenen Vaterlandes und seiner Armee aufriefen, die innerhalb Russlands Zwietracht säten, an die Macht strebten und die nationalen Interessen verrieten.“ Die Rede drückt auf ideologischer Ebene aus, wo die herrschende Klasse Russlands, die nationale Bourgeoisie, anzusetzen gedenkt. Der Traditionsfaden des untergegangenen Zarismus, vielleicht auch des kurzlebigen Regimes unter Kerenski, wird nach 80 Jahren roter Betriebsunterbrechung nicht grundlos oder zufällig aufgenommen. Übereinstimmend mit ihren objektiven Interessen will die russische Bourgeoisie expandieren, Einflusssphären errichten, Märkte erobern. Dass ihr dies nicht gelingt, hat mit den internationalen Kräfteverhältnissen zu tun und zwingt sie zum Lavieren.

Eskalation der zwischenimperialistischen Widersprüche

Welcher Gestalt sind die internationalen Kräfteverhältnisse, die Russland klein halten? Es ist die Übereinstimmung der beiden maßgeblichen imperialistischen Blöcke – der USA und ihrer Vasallen und der von der BRD dominierten EU – in dieser einen Frage: Ein Wiederaufstieg Russlands in den elitären Zirkel der Großmächte ist nicht gewünscht, denn jeder Konkurrent kann nur zu Lasten der bereits etablierten Mächte aufsteigen. Russland soll nicht am Weltmarkt teilnehmen, es soll ganz zerlegt werden. Dementsprechend wurden die einst ideologisch begründeten internationalen

Bündnissysteme umfunktioniert: Die NATO, einst in Konfrontation zu den Staaten des Warschauer Vertrages, wurde gegen das „neue Russland“ in Stellung gebracht und bis in ehemalige Sowjetrepubliken expandiert.

Hier allerdings enden die Gemeinsamkeiten des Westens, denn das Ziel entzweit die Verbündeten, je greifbarer es scheint. Die ökonomischen Interessen der USA und Deutsch-Europas unterscheiden sich auch im Falle Russlands. Während das deutsche Kapital sofort nach der Konterrevolution auf Kapitalexport setzte und deshalb stark im russischen Markt vertreten ist, konzentrierten sich die USA auf die Aufrollung der Einflusssphären, auf die „frei gewordenen“ internationalen Verbündeten der einstigen UdSSR auf allen Kontinenten. Heutzutage ist amerikanisches Kapital in Russland fast gar nicht vertreten, deutsches umso stärker. Die Energieabhängigkeit Westeuropas von den russischen Gas- und Ölreserven tut ihr Übriges.

Daraus werfen sich zwei Fragen auf: Warum hält die BRD am Bündnis mit den USA fest, obwohl es im Falle Russlands ihren Interessen zu schaden scheint? Und: Warum eskalieren die USA den Konflikt mit Russland derart willentlich, obwohl dies einen engen Partner wie die BRD direkt trifft?

Mit der Konterrevolution 1989–91 haben sich alle internationalen Verhältnisse verschoben. Die unumstrittene westliche Führungsmacht, die USA, befand sich 1989 auf dem Zenit ihrer Macht, in einer einmaligen Position der Stärke. Gleichzeitig ging ihr das Instrument verloren, mit dem bislang alle anderen imperialistischen Mächte hinter sie geschart werden konnten: der Hass auf den gemeinsamen Feind, den Weltsozialismus. Nur unter dem Eindruck dieses mächtigen Gegners konnten die zwischenimperialistischen Widersprüche ein Vierteljahrhundert (auch das mehr schlecht als recht) unterdrückt werden. Nach 1989 mussten sie erneut aufbrechen. Doch der Weltimperialismus konnte nach Beseitigung der Sowjetunion nicht den Kalender um 70 Jahre zurückstellen – die Welt war eine andere geworden, die VR China entging der Konterrevolution, der Sieg über den deutschen Faschismus hatte den Sozialismus zum welthistorischen Faktor mit Nachwirkung gemacht, seine einstige Stärke war in Gestalt einer Armee übrig geblieben, nun unter neuen Herren: Ökonomisch wieder ein Zwerg, verfügt die russische Bourgeoisie über die Waffenschmieden, die Flugzeugindustrie und die Wasserstoffbomben einer Supermacht. Das ist historisch ohne Beispiel.

Die USA als „primus inter pares“ der Imperialisten machte nach dem Fall der UdSSR die erstarkende VR China als kommenden globalen Gegner aus, die amerikanische Strategie orientierte sich dementsprechend nach Osten: Diese „pivot to asia“ (Hinwendung nach Asien) überließ den Verbündeten in Europa gute Teile der postsowjetischen Beute. Mit dem Sieg über den Weltsozialismus begann der Abstieg der USA. Eine Reihe von Arrondierungs-, Rohstoff- und Vorfeldkriegen muss als gescheitert eingestuft werden; keinen der Kriege des neuen Jahrtausends konnten die USA im Sinne einer dauerhaften Unterwerfung und „Befriedung“ gewinnen. Das deutsche Kapital hat diesen Niedergang der Weltmacht ungerührt mit angesehen. Die letzte Supermacht ist dabei, zurückgestutzt zu werden, wenn auch in einer langen Zeitspanne, denn auch hier bleibt das Riesenarsenal des militärisch-industriellen Komplexes aus dem Kalten Krieg übrig. Der große Binnenmarkt verschafft den USA obendrein Spielraum; inwiefern die Anwendung der Technologie des Schieferöl-„Fracking“ eine Rohstoffunabhängigkeit auf längere Sicht schaffen kann, ist noch nicht absehbar.

Die Interessen des deutschen Imperialismus

Der epochale Einschnitt, den die Konterrevolution 1989 bedeutet, hat eine neue imperialistische Epoche eröffnet und erfordert schonungslose Analyse, insbesondere was die Verfasstheit unseres Hauptfeindes – der deutschen Bourgeoisie – anbelangt. Das imperialistische Deutschland konnte nach 1989 als einzige Großmacht sein Territorium direkt erweitern, die „neue“ BRD hat im Wesentlichen alle deutschen Ziele des Zweiten Weltkrieges realisiert: Vernichtung des Sozialismus und Dominanz über Europa, wenigstens bis fast zum Ural. Ein „europäischer Zollverein“, von dem seit Friedrich List über die deutschen Faschisten alle Vordenker des Kapitals nur träumen konnten. Ein Erbfeind Frankreich, der am Boden liegt. Doch auch bereits vor Entfesselung des Zweiten Weltkrieges dachten die Strategen nur an das Sprungbrett für den anstehenden Kampf um die Weltherrschaft, als Gegner machten sie die USA aus. An dieser geopolitischen Konstellation hat sich – trotz der „Pause“

zwischen 1945 und 1989 – nichts grundlegend geändert. Die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals, der beständige Zwang zur Expansion, treiben die deutsche Bourgeoisie erneut in Auseinandersetzungen (mit Gegnern, die vermutlich auch diesmal zu groß sind, um besiegt werden zu können – aber das hat sie noch nie gehindert!). Gleichzeitig bleiben gemeinsame Interessen mit den USA bestehen, vor allem gegen Russland und die VR China. Die viel gerühmte transatlantische Partnerschaft ist längst – selbst unter einer transatlantisch orientierten Fraktion des deutschen Kapitals – zu einer „Fall-zu-Fall“- Freundschaft degradiert: mit den USA, wenn es nutzt, ohne die USA, wenn es möglich ist, und gegen die USA, wenn es nötig wird.

Das US-Kapital hat darauf spezifisch reagiert und versucht, die deutsche Expansion einzudämmen, ohne die direkte Konfrontation zu suchen. Das amerikanische Unbehagen über den deutschen Zuwachs an Stärke äußert sich auch in einer unterschiedlichen Strategie gegenüber Russland. Beim Umsturz in der Ukraine rangen eine amerikanische und eine – von Außenminister Steinmeier formulierte – deutsche Strategie miteinander. Unter den ukrainischen Kollaborateuren gibt es US-Vasallen wie Julia Timoschenko und deutsche Marionetten wie den Boxer Klitschko, der dank Bild nun Bürgermeister Kiews ist. Affären wie das enthüllende Telefonat der US-Emissärin Victoria Nuland in der Ukraine, deren „Fuck the EU“ wohl von russischer Seite aufgefangen und postwendend veröffentlicht wurde, illustrieren dies. Die USA arbeiten zudem bereits daran, eine Art „zweite NATO“, diesmal unter Ausschluss der BRD, aus den Staaten Osteuropas zu formieren. Sie würde sich wie ein Gürtel zwischen Russland und Deutschland legen – und damit empfindliche Rohstoffrouten kappen.

Es ist angezeigt, auch die aktuelle Auseinandersetzung mit Russland und die amerikanischen Maximalforderungen nach Wirtschaftssanktionen, die in zweiter Linie stets die BRD empfindlich treffen würden, unter diesen Aspekten zu betrachten.

Herausbildung einer „eurasischen“ Kapitalfraktion

Die transatlantische Bündnistreue, die Deutschland an der Seite der USA hält, ist keine Nibelungentreue und schon gar nicht einer fehlenden Souveränität Deutschlands gegenüber einem „großen Bruder“ geschuldet. Das Bündnis hält deswegen, weil es dem deutschen Kapital mehr Nutzen als Schaden bringt. Die herrschende Fraktion der Monopolbourgeoisie will nicht auf die Gewinne des transatlantischen Handels und die dadurch erreichbaren weltweiten Exportgebiete verzichten, Russland könnte all dies gar nicht ersetzen. Innerhalb der untereinander in Konkurrenz stehenden herrschenden Klasse der BRD wirken diese Geschehnisse jedoch wie ein Katalysator auf die Herausbildung gegnerischer Fraktionen. Denn ein „Weiter so wie bisher“, ein Taktieren nach Ost und West, wird immer schwieriger – gleich gute Geschäftsbeziehungen zu Russland, der VR China und den USA zu unterhalten ist mittlerweile ein Ding der Unmöglichkeit, doch in all diesen Märkten ist bereits viel deutsches Kapital untergebracht. Zugespitzt könnte dies beispielsweise bedeuten: Ein transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP) mit großen Gewinnen für bestimmte Monopole ist nur zu bekommen, wenn die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland in Kauf genommen wird, unter der wiederum etliche andere – manchmal gar dieselben – Monopole zu leiden hätten.

Siemens-Konzernchef Joe Kaeser besuchte noch im März dieses Jahres Wladimir Putin und lobte die „vertrauensvolle Beziehung“: „Wir setzen auf eine langfristige Wertepartnerschaft.“ Das ist im Falle Siemens auch angezeigt: Heute beschäftigt der Konzern in Russland mehr als 3000 Mitarbeiter und erwirtschaftet ca. 2 Mrd. Euro Umsatz. Das deutsche Monopol ist andererseits auch in Amerika gut im Geschäft. Die Medizintechnik-Tochter Siemens Medical Solutions konnte sich – rein zufällig ebenfalls im März – einen Großauftrag des US-Verteidigungsministeriums sichern. Laut US-Ministerium hat das Geschäft ein Gesamtvolumen von bis zu 1,8 Mrd. Dollar. Einen Monat später gab Kaeser seinen Separatkurs gegenüber Russland auf und stimmte Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu. „Das Primat der Politik gilt“, gab er Ende April bekannt. Der nach Intervention durch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) geplatzte Deal der Rüstungssparte von Rheinmetall über die Lieferung eines kompletten Gefechtsübungsstandes an Russland wurde dem Konzern vom ideellen Gesamtkapitalisten – dem Staat – noch einmal mit Steuergeld versüßt. Diese Beschwichtigungspolitik der auf Ausgleich zwischen den politisch-strategischen und ökonomischen Frontlinien bedachten Bundesregierung, Unterstützung ihres Russlandkurses gegen klingende Münze zu erkaufen, ist allerdings kaum beliebig fortzusetzen: So viel Kapital, wie im Falle eines Totalverlustes Russlands für die deutsche Bourgeoisie abgeschrieben werden müsste, ist aus dem Bundeshaushalt nicht zu erbringen .

Zu den Merkwürdigkeiten der Zeit gehört es, dass genau diese erheblichen Konflikte kaum ihren Weg in die Kommentarspalten der bürgerlichen Massenmedien finden, sondern hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden. Auch dies entspringt historischen Besonderheiten, vor allem der starken Kontrolle des transatlantisch orientierten Flügels der deutschen Bourgeoisie im Massenmediensektor (und zum Teil wohl auch des gewachsenen Einflusses amerikanischer Dienste: namhafte Leitartikler großer Zeitungen wie der Süddeutschen oder der FAZ treffen sich z. B. regelmäßig beim proamerikanischen Lobbyistenverein „Atlantik-Brücke“). Es gibt keine Zeitung, keinen Sender, nicht einmal einen „Thinktank“ von Format, der die erheblichen Interessen der auf Russland-orientierten Teile des deutschen Monopolkapitals adäquat abbilden würde. Auch im politischen Überbau stehen die „prorussischen“ Vertreter des deutschen Kapitals weitgehend isoliert da, obwohl Bewegung erkennbar wird: Politische Grenzgänger und moderne „Inflationsheilige“, Hasardeure wie Jürgen Elsässer, aber auch Teile der kleineren Bourgeoisie, heute eher in der AfD als in der FDP organisiert, setzen darauf, dass sich eine Russland-freundliche Strategie innerhalb der herrschenden Klasse durchsetzen könnte. Es ist unerheblich, ob sie aus panslawistischer Sympathie, demagogischem Kalkül oder eigenem handfesten ökonomischen Interesse agieren. Ihre Projekte – wie der kurzzeitige Versuch, mit Hilfe von „neuen Montagsdemonstrationen“ eine radikal antiamerikanische Stimmung auf die Straße zu bringen – tragen den Charakter von Testballons bei der Generierung einer neuen Massenbasis. Adressat all dieser Bemühungen ist nicht der russische Präsident Putin, selbst wenn Geld aus Russland an diese Teile der deutschen Opposition fließen sollte. Nur wenn es nennenswerten Teilen des deutschen Kapitals opportun erscheint, neue bürgerliche Bewegungen, Parteien und Massenmedien herauszubilden, wird dies geschehen.

Und die Kommunisten?

Die Etablierung einer Kapitalfraktion mit Interesse an Russland (und darüber hinaus an der VR China), an der Aufrechterhaltung eines geschäftsmäßigen Umgangs, vielleicht gar eines engeren Bündnisses mit diesen Mächten, ist im Gange. Diese könnte man als die „eurasische“ – im Gegensatz zur „transatlantisch“ orientierten – Fraktion bezeichnen. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich ein entsprechendes zivilgesellschaftliches Netzwerk entwickelt hat. Aus Sicht der Kommunisten und der arbeitenden Klasse bietet die Herrschaft keiner dieser Fraktionen irgendwelche Vorteile, ist keine von ihnen für uns als Bündnispartner geeignet. Weder muss die imperialistische BRD irgendeine Souveränität zurückerlangen – dies ist ihr in den letzten 25 Jahren vollends geglückt, mehr noch: Sie raubt anderen Staaten selbst die Souveränität, beispielsweise durch das EU-Schuldenregime. Noch brächte uns eine Anlehnung der herrschenden Klasse an einen neuen „Partner“ Vorteile oder gar ein Wunderding unter imperialistischen Umständen, nämlich „die Sicherung des Friedens“. Der sich abzeichnende Konflikt mit den USA wird kommen, wenn das deutsche Kapital im Bündnis keinen ausreichenden Nutzen mehr sieht oder das US-Kapital grundlegend umsteuert. Es ist nicht die Aufgabe der fortschrittlichen Kräfte, dies zu forcieren oder herbeizusehnen. Frieden lässt sich nicht durch Abkehr von den USA und Hinwendung nach Russland erreichen, sondern nur durch Beseitigung der Triebfeder, die dem Kapitalismus innewohnt und die ihn – im Falle Deutschlands geprägt durch spezifische Entwicklungsbedingungen, vor allem die extreme Exportabhängigkeit – aggressiv und expansiv macht: dem Zwang zur Vermehrung des Kapitals und des Profits.

Vom Sturz des deutschen Imperialismus als konkretem und praktisch gewordenem Internationalismus sind wir weit entfernt. Selbst die Blockade von Rüstungstransporten steht außerhalb unserer Möglichkeiten. Es sind die Aufständischen im Donbass, die mit den Söldnern, Neonazis und Landsknechten auch der deutschen Bourgeoisie fertig werden müssen. Unter dem Eindruck dieser Umstände haben wir Strategie und Taktik zu beraten. Wir haben – nach Stand unserer Möglichkeiten die herrschende Klasse anzugreifen, unseren Hauptfeind – den deutschen Imperialismus – ins Visier zu nehmen. Die Debatte zur Einschätzung Russlands oder der Ukraine bleibt – wenn dies nicht in Rechnung gestellt wird – eine theoretische Ersatzhandlung.

Stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Originalbeitrags der Autoren, der auf der T&P-Website (www.theoriepraxis.wordpress.com) in voller Länge heruntergeladen werden kann.