Lob der Nation

Posted on 26. Februar 2020 von


von Andreas Wehr

Michael Bröning, Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen, Verlag J.H.W.Dietz Nachf. GmbH, 112 Seiten, 12,90 Euro ISBN 978-3-8012-0528-7

Ein „Lob der Nation“ – und das von einem hochrangigen Mitarbeiter der sozialdemokratischen Friedrich- Ebert-Stiftung (FES)? Das muss einfach neugierig machen. Der Autor des Buches, Michael Bröning, zeichnet in der FES als Projektverantwortlicher für das Onlinejournal „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG) verantwortlich. In diesem Journal kommen immer wieder auch Wissenschaftler und Journalisten zu Wort, die vom Mainstream der heutigen kulturalistischen Linken nicht beachtet, ja von ihr sogar offen angefeindet werden, wie etwa Wolfgang Streeck, Nils Heisterhagen und Wolfgang Merkel. Raum erhalten dort aber auch Politiker wie der tschechische Sozialdemokrat Luboš Blaha oder die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, um die Flüchtlingspolitik ihrer Länder zu verteidigen. Das Publikationsangebot der IPG ist daher sehr viel offener und pluraler als das der Rosa-Luxemburg- Stiftung, die der Partei DIE LINKE nahesteht.

Sein Credo beschreibt Bröning in der Einleitung des Buches: „Demokratie bedarf eines Demos, einer klar definierten demokratischen Körperschaft. Historisch und theoretisch ist das Ideal der Volksherrschaft untrennbar mit der Entwicklung des Nationalstaats in einem klar definierten Territorium verbunden. Es ist auch genau dieser Rahmen, in dem linke Politik geschichtlich angetreten ist, um Widerstand und Solidarität gegen die Interessen des Kapitals zu organisieren und demokratische Mitbestimmung einzufordern.“ (15) Von dieser Position aus behandelt der Autor die für ihn entscheidende Rolle des Nationalstaats in einem linken politischen Konzept, aufgeteilt in drei Themenblöcke: Migration, Europäische Union und Globalisierung.

Im Abschnitt „Migration. Solidarität und Integration“ widerspricht er zunächst den in der Linken so verbreiteten fatalistischen Positionen, wonach eine Steuerung der Zuwanderung als unmöglich angesehen wird: „Gerade für progressive Kräfte ist das verblüffend, denn ausgerechnet diejenigen Akteure, die ansonsten die Steuerungsmöglichkeiten von Politik legitimerweise betonen, verschreiben sich beim Thema Migration einer ̔There is no alternative ̔- Perspektive. Dabei wiederholen die Progressiven eben die Fehler, die sie beim Versuch der Einhegung der Globalisierung und im Verhältnis zum Turbo- Kapitalismus des 21. Jahrhunderts auf anderer Ebene begangen haben (…)“ (24)

Steuerung der Einwanderung bedeutet zugleich aber auch ihre Begrenzung: „Schließlich wäre eine Steuerung ohne Begrenzung kein Kontroll- sondern lediglich ein Informationszugewinn.“ Und ohne eine Begrenzung kann es keine erfolgreiche gesellschaftliche Integration geben: „Unbegrenzte Einwanderung sollte (…) aus sehr viel indirekteren, aber gleichzeitig strukturell langfristig wirksameren Gründen gerade von progressiveren Befürwortern einer sozialstaatlichen Umverteilung kritisch gesehen werden: weil dadurch nachhaltige gesellschaftliche Solidarität unterminiert wird. Doch noch ein zweiter Grund sollte fortschrittlichen Kräften eine Begrenzung von Einwanderung als politisch sinnvoll erscheinen lassen: nämlich das ursozialdemokratische Anliegen gesellschaftlicher Integration“. (28)

Darüber, wie eine solche gezielte Steuerung, vor allem aber eine Begrenzung der Migration konkret aussehen könnte, macht der Autor jedoch nur vage Andeutungen. Die in diesem Zusammenhang oft genannte Obergrenze von maximal 200.000 Aufzunehmenden wird nicht angesprochen. Verwiesen wird

vielmehr auf die erfolgreiche Einwanderungspolitik Kanadas, die als „Weg des Pragmatismus“ (33) beschrieben wird: „In Summe hat Kanada eine interessengeleitete, stark selektierende Einwanderungspolitik etabliert, die gesellschaftlich breite Unterstützung erfährt und zahlenmäßig einen erstaunlichen Umfang angenommen hat.“ (35) Es sei jedoch – nach Bröning – zu bezweifeln, ob Kanada als Vorbild für Deutschland dienen könnte: „Die anhaltende gesellschaftliche Zustimmung zur praktizierten Migrationspolitik und zur großzügigen humanitären Flüchtlingspolitik wird dabei sicher auch begünstigt durch die geografische Lage des Landes, die Migrationsbewegungen per se begrenzt.“ (35) In der Tat ist die Situation in Deutschland eine andere, denn seine Grenzen lassen sich kaum sichern.

Seine Hoffnung auf die Etablierung einer geregelten Einwanderungspolitik auch in Deutschland setzt der Autor auf das bei der Abfassung des Manuskripts noch in Planung befindliche Zuwanderungsgesetz, auf das sich die Regierungskoalition 2018 im Koalitionsvertrag verständigt hatte. Das inzwischen beschlossene und im März 2020 in Kraft tretende „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ dürfte allerdings kaum den Erwartungen Brönings entsprechen. Es erleichtert lediglich den Zuzug bereits qualifizierter Arbeitskräfte, um dem von den Unternehmen so laut beklagten Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Im Ergebnis wird die neue Regelung daher vor allem den „brain drain“ aus Entwicklungsländern verstärken. An der unbefriedigenden Situation des ungeregelten Zuzugs von Arbeitssuchenden, die als Flüchtlinge ins Land kommen, wird es hingegen nichts ändern.

Wie in der Frage der Migration unterscheiden sich auch Brönings Aussagen zur Europäischen Union deutlich von den gängigen pro-europäischen Parolen des linken kulturalistischen Milieus. Bröning erinnert daran, dass „das real existierende europäische Projekt nicht von Linken, sondern von konservativen Kräften aus der Taufe gehoben (wurde)“. (46) Dies habe weit reichende Konsequenzen, denn „diese wirtschaftsliberale DNA (…) ist heute kaum noch aus dem europäischen Projekt herauszufiltern.“ (46) Und so laute „die ernüchternde Wahrheit, dass zumindest bislang Institutionen wie die EU eher als Globalisierungsbeschleuniger und als Vertreter des Freihandels in Erscheinung getreten sind denn als Korrektoren von Entwicklungen, die aus dem Ruder gelaufen scheinen.“ (74) In seiner Kritik an der EU beruft sich der Autor vor allem auf Artikel und Bücher des Sozialwissenschaftlers Fritz W. Scharpf und des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm.

Beklagt wird vom Autor insbesondere der undemokratische Charakter der zur Euro-Rettung geschaffenen Institutionen, hier vor allem des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM): „Die Marginalisierung demokratisch gewählter nationaler Parlamente und die Ersetzung eines Königrechts (das der Budgetkontrolle, A.W.) auf nationaler Ebene ist alles Mögliche, aber bestimmt kein Zugewinn an demokratischer Kontrolle.“ (54)

Bröning stellt die Frage, wie stattdessen „eine vernünftige Europäisierung“ aussehen könnte. Den Anhängern einer „Europäischen Republik“ erteilt er dabei eine klare Absage, steht doch eine solche Forderung sogar im Widerspruch zu den Europäischen Verträgen, in denen das Subsidiaritätsprinzip verankert ist. Er plädiert vielmehr für ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, eines „flexiblen Europas“. (67) Nach ihm „gilt (das) nicht zuletzt für eine wirklich strukturelle Lösung der anhaltenden Eurokrise. Auch hier wäre zu überlegen, ob die ̔trügerische Stabilität des Status quo ̔ und das Bestehen auf einem ̔One Fits None-Ansatz dauerhaft tragfähig sind.“ (67) Plädiert wird für einen ̔zweistufigen europäischen Wirtschaftsverbund ̔, wie ihn Fritz W. Scharpf vorschlägt. Die ökonomisch schwächeren Eurostaaten erhielten so die Möglichkeit zurück, das Mittel der Abwertung einer nationalen Währung zum Ausgleich mangelnder Konkurrenzfähigkeit einsetzen zu können. Ein „solches Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten (würde) auf absehbare Zeit nicht in eine europäische Föderation münden, wohl aber in eine punktuell engere Zusammenarbeit bei gleichbleibender Souveränität der Mitgliedsstaaten etwa unter dem Dach einer europäischen Konföderation.“ (67f.)

Sein Fazit zur EU lautet daher: „Wer heute (…) auf europäischer Ebene mehr Demokratie wagen will, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass dies nur gelingen kann, wenn auch und gerade progressive Pro-Europäer bereit sind, mehr Nationalstaat zu wagen.“ (68) Das aber ist genau das Gegenteil der Europapolitik, wie sie seit langem die SPD verfolgt. Im Wahlkampf zum Europäischen Parlament im Frühjahr 2019 hat sie sich gerade erst wieder zu einer schnelleren Integration der bestehenden EU und ausdrücklich gegen jede Stärkung der Nationalstaaten ausgesprochen.

Auch im dritten Kapitel des Buches, das mit „Globale Politik und der Nationalstaat“ überschrieben ist, kommt der Autor zu Schlussfolgerungen, die im Gegensatz zur Politik der SPD stehen: „Schon ein oberflächlicher Blick auf aktuelle sicherheitspolitische Herausforderungen auf globaler Ebene bestätigt die Einschätzung, dass heute nicht ein Zuviel sondern ein Zuwenig an Staatlichkeit das eigentliche globale Problem darstellt.“ (77) Die „Hauptbedrohungen der Gegenwart (sind) nicht mehr ̔Aggression, Eroberung und das Auslöschen von Staaten ̔,( …) (es ist) vielmehr der Zusammenbruch von Staaten ̔.“ (79) „Dem Weltfrieden, so die für manch einen Beobachter kontraintuitive Erkenntnis, ist nicht mit der Überwindung des Nationalstaats, sondern mit seiner Stärkung gedient.“ (80)

Nach Bröning gilt: „Die Politik gegen den Staat erwies sich vielerorts als Politik gegen Entwicklung.“ (83) Seine Vorbilder für die notwendige Stärkung des Staates sieht er in der Volksrepublik China, in Japan, Südkorea und Taiwan: Sie alle „verschmähten die vermeintlichen neoliberalen Allheilmittel und setzten auf eine staatszentrierte Entwicklung. China bestand stets auf Einfuhrzöllen auf Industriegüter, einen eingeschränkten grenzüberschreitenden Kapitalverkehr, einen Bankensektor, der stark reguliert und sogar in Staatshand ist, und einer großen Zahl staatseigener Unternehmen, die mit Subventionen und Monopolen geschützt werden. Es ist dieses Rezept eines massiven staatlichen Eingriffs, welches das chinesische Wirtschaftswunder der vergangenen Dekaden erst ermöglicht hat (…)“ (83 f.)Das Resümee des Autors in diesem Abschnitt lautet denn auch: „Der Nationalstaat (ist) nicht Hindernis, sondern Ausgangspunkt einer wirklichen internationalistischen Weltordnung.“ (91)

Im Schlusskapitel seines Buches fordert Bröning „Ein linkes Lob der Nation“ (94): Notwendig ist „die Rückbesinnung auf den starken Staat als progressives Politiknarrativ“. (97) „Eine Linke, die diese positive Grundhaltung zur Nation und zum starken Staat nicht nur vernachlässigt, sondern aktiv zu überwinden sucht, stellt sich gegen gesellschaftliche Mehrheiten – und gegen die eigenen Wähler, wie sich derzeit an der dramatischen Selbstabschaffung weiter Teile der linken Mitte in Europa beobachten lässt.“ (99) Scharf kritisiert er „programmatische Verschiebungen zugunsten progressiverer und in ihrer Wirkung antinationalstaatlicher Positionen etwa in Fragen der Migrationspolitik. Durch die Bank lockerten Mitte-Links-Parteien Einwanderungsbeschränkungen, liberalisierten Staatsbürgerrechte und setzten auf progressive Identitätspolitik als Ersatz für traditionell kommunitaristische nationale Identitätsangebote.“ (101)

Brönings Buch kann als eine programmatische Erklärung für eine völlig andere sozialdemokratische Politik gelesen werden, die mit der vorherrschenden Identitätspolitik bricht und zurückkehrt zur Verteidigung und zum Ausbau eines von Sozialabgaben finanzierten Wohlfahrtsstaats, der nicht zuletzt die „historische Trophäe der Sozialdemokratie darstellt“ (25). Nur dann werden seiner Meinung nach die Sozialdemokraten den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der Rechtspopulisten stoppen können. Mit dieser Position stehen er und die wenigen Gleichgesinnten aber leider weitgehend allein dar. Wie andere europäische sozialdemokratische Parteien ist auch die SPD so gut wie vollständig auf den Kurs einer kulturalistischen, antinationalen Identitätspolitik eingeschwenkt. Vor allem die verbliebene SPD-Linke verfolgt diese Politik.

Auch wohl mit Blick auf seine gegenwärtige Außenseiterposition in der SPD hat Bröning sein Buch, das bei J.H.W. Dietz, dem Hausverlag der SPD, erschienen ist, in moderater, wenig konfrontativer Sprache abgefasst. Vermieden wird etwa die konkrete Benennung der fatalen Politik der SPD, die der Rechten in die Hände spielt. Es werden auch keine Politiker benannt, die die Partei erst in diese Lage gebracht haben. Und so begründet Bröning auffällig oft seine Vorschläge mit Ergebnissen aus Meinungsumfragen – er lässt so die Mehrheiten dort für eine andere Politik für sich sprechen.

Das Buch ist auch für außerhalb der SPD Stehende hochaktuell, denn sowohl in der Partei DIE LINKE wie auch in anderen Linksaußen stehenden Gruppen ist der „intellektuelle Nationalstaats-Exorzismus“ (13) weit verbreitet.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstveröffentlichung auf https://www.andreas-wehr.eu/lob-der-nation.html im November 2019.