Grenzen der Einigkeit

Posted on 27. Februar 2020 von


von Jürgen Lloyd

Einigkeit ist hochgeschätzt bei Kommunisten. Mit gutem Grund haben Marx und Engels den Appell an die Proletarier aller Länder zur Vereinigung zum Leitspruch der entstehenden kommunistischen Bewegung gemacht. Die benötigte Einigkeit beruht aber nicht auf einem großzügigen „Schwamm drüber“ angesichts von Differenzen. Denn Beliebigkeit ist keine Basis für Einigkeit, was sich bereits in der Vielzahl der Streitschriften zeigt, mit denen Marx und Engels gegen Positionen vorgingen, die sie für falsch und schädlich hielten. Einigkeit in der kommunistischen Bewegung kann nur auf Grundlage übereinstimmender Einsichten und Überzeugungen bestehen, die erarbeitet werden müssen. Die gute Nachricht ist, dass wir als Marxistinnen und Marxisten hierzu nicht in einen nutzlosen Meinungsstreit verfallen müssen, sondern den Anspruch teilen, auf wissenschaftlicher Basis und mit einsehbaren Argumenten um richtige Positionen ringen zu können. Die schlechte Nachricht ist, dass akkumulierte Fehler, Versäumnisse in der Bildungsarbeit und ganz allgemein unsere Schwäche dazu beitragen, dass wir bei der praktischen Umsetzung dieses Anspruchs öfters scheitern.

Ich sehe in wesentlichen Fragen Differenzen zu Genossen, mit denen zusammen ich in den letzten Jahren für T&P gearbeitet habe und die weiterhin für die zukünftige Entwicklung von T&P Verantwortung tragen. Diese Differenzen erscheinen bei verschiedenen Themen als da in unvollständiger Auflistung wären: der Charakter der Kriegsgefahr und die Frage nach dem Hauptfeind, unser Bezug zur Nation, oder auch die Einschätzung der Klimaproteste. Doch wie immer gilt, wenn wir wahrnehmen, wie und wo etwas erscheint, sollten Marxistinnen und Marxisten auch danach fragen, was da erscheint und sich in den verschiedenen Erscheinungsformen zum Ausdruck bringt. Meine Annahme ist, bei diesem „was“ handelt es sich um eine besondere strategische Option, unseren – übereinstimmend als unzureichend ermessenen – Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen zu stärken. Hilfsweise bezeichne ich diese Option, die meine Genossen bei T&P meiner Einschätzung nach verfolgen, als „Links-Populismus“. (Kleiner Einschub: Bei dieser Vokabel bin ich verpflichtet, einem Missverständnis vorzubeugen. Die Bezeichnung „Populismus“ ist ein beliebtes Schimpfwort, welches diejenigen, die ihrer Herrschaftspraxis gerne ungestört nachgehen wollen, gegen die Beherrschten in Stellung bringen, die ihnen als „Pöbel auf der Straße“ gelten. Meine Verwendung dieser Bezeichnung soll natürlich – obwohl ich sie mit Kritik verbinde – nicht diese Bedeutung haben. Im Gegenteil: Den Populismusvorwurf sollten wir, wenn er von den Herrschenden und ihren Schreiberlingen gegen uns vorgebracht, eher als Ehrbezeichnung ansehen.)

Ich möchte versuchen, den hier als Links-Populismus titulierten Ansatz zu beschreiben und auch darauf hinweisen, worin ich den Fehler dieses Versuches sehe. Damit ist sicherlich nicht schon eine auch nur ansatzweise vollständige Analyse und auch keine umfassende Kritik geleistet. Das bleibt noch eine Aufgabe, die ich allerdings für notwendig erachte. Es kann lediglich darum gehen, die grobe Linie aufzuzeigen, die mich veranlasst, eine solche Ausrichtung von T&P nicht mittragen zu wollen, obwohl – oder gerade weil – ich die Funktion, die diese Zeitschrift mit ihrer Prägung durch Hans Heinz Holz und Renate Münder ausgefüllt hat, für ein weiterhin unterstützenswertes und notwendiges Projekt halte. Die Debatte über die Strategie der kommunistischen Bewegung, über die Frage nach der Bedeutung und dem Charakter einer zu erkämpfenden Hegemonie und über den Weg dorthin wird in meiner Auseinandersetzung mit den Genossen zwar berührt, aber dazu reicht es natürlich nicht, sich lediglich – wie es dieser Beitrag hier macht – von einer anderen Position abzugrenzen. Dieser Beitrag soll also auch nicht eine eigene positive Positionierung in der Strategiedebatte ersetzen. Ähnliches gilt auch für die Fragen, die ich oben als Themen genannt habe, bei denen unsere Differenzen in Erscheinung treten.

Weitgehend anerkannt und auch unter uns unumstritten ist, dass es offensichtlich kein erfolgversprechender Weg ist, sich sektiererisch von den Menschen abzusondern, mit denen wir eine bessere Gesellschaft erkämpfen wollen. Es ist daher in der Geschichte der Arbeiterbewegung keine neue Erscheinung, wenn der Versuch gemacht wird, durch Annäherung an Positionen, die in der Breite der Bevölkerung populär sind, den eigenen Wirkungsgrad erhöhen zu wollen. Lenin forderte die Fähigkeit der revolutionären Kommunisten, sich mit den „werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen“[1]. Hier sehe ich bei uns noch keinen Dissens. Doch ist hier ein genaues Hinschauen gefordert, denn diese Empfehlung wurde und wird sehr unterschiedlich ausgelegt.

So war und ist es auch keine seltene Erscheinung, dass dieser Ansatz so gedeutet wird, es gehe bei ihm darum, die Akzeptanz und Popularität der Kommunisten in der Bevölkerung zu heben um dann – mit so erzeugter Rückendeckung – endlich wirksam tätig werden zu können. Die passende Bündnisorientierung zu dieser Interpretation zielt auf maximale Breite der Bündnisse als Optimum und sieht die Aufgabe der Kommunistischen Partei darin, höchstens noch als Ideengeber zu fungieren, als diejenigen, die stets und verlässlich für möglichst umfassende Bündnisbreite eintreten und die eigenen „weitergehenden Ideen“ den Bündnispartnern lediglich als Theorien verkünden. So sieht die opportunistische Missdeutung der Massenverbundenheit aus und so wurde und wird sie – wenn auch mit vielerlei Differenzierungen – von der sich verbürgerlichenden Sozialdemokratie, von den Anhängern der „Thesen“ des Sekretariats und – beim Thema Antifa und Klimaproteste – auch von Hans-Peter Brenner vertreten[2]. Die von Lenin betonte spezifisch kommunistische Aufgabe, aktiv für die Hervorbringung von Klassenbewusstsein tätig zu sein, wird entweder komplett negiert oder verkommt – wie bei Brenners Verständnis marxistischer Bildungsarbeit – zum untauglichen Hinterhertheoretisieren.

Die oben von mir Links-Populismus genannte Option will sich von solchem Opportunismus absetzen. Zu Recht kritisiert sie an der opportunistischen Fetischisierung möglichst großer Bündnisbreite, dass mit ihr das Potential derjenigen vernachlässigt wird, die unzufrieden mit den bestehenden Verhältnissen keineswegs mehr bereit sind, sich mit genau den wohlanständigen Bündnispartnern gemein zu machen, die sie als Verfechter eben jener Verhältnisse kennengelernt haben. Unzufriedene, die sich ohnehin an den Rand gedrängt fühlen oder von sozialem Abstieg bedroht sehen, werden von den Politikangeboten eines solchen, sich links und demokratisch nennenden Opportunismus nicht erreicht, sondern abgestoßen. Das Paradebeispiel der Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“ erklärt gar selbst, „eine rote Linie“ ziehen zu wollen gegenüber den Unzufriedenen, sofern diese sich für rassistische Ideologie empfänglich zeigen. Solchem opportunistischen Irrweg setzen die Befürworter einer links-populistischen Linie den Ansatz entgegen, im Protest der Unzufriedenen eine Artikulation ihrer, durch Kapitalismus und neoliberale Politik verletzten Interessen zu sehen.[3] Als praktisch-politische Konsequenz aus diesem Ansatz und gelegentlich unter (falscher!) Berufung auf die oben zitierte Forderung von Lenin nach „Verschmelzung“ mit den Massen oder auch auf die Volksfrontstrategie des VII. Weltkongresses wird dann die Folgerung gezogen, wir sollten uns nun diesem Protest annähern. Die Forderung nach geschlossenen Grenzen gegenüber Flüchtlingen etwa, oder die Ablehnung gegenüber einer Klimabewegung seien Anknüpfungspunkte, die wir mit unserer antimonopolistischen Strategie aufzugreifen hätten. Zweifellos bedeutet der Zuzug von Flüchtlingen eine Verschärfung der Konkurrenzkämpfe um Arbeitsplätze, Löhne, Wohnungen, usw., mit der die Durchsetzungsfähigkeit der Arbeiterklasse hier beeinträchtigt wird und die deswegen von Kapitalvertretern auch begrüßt wird. Ebenso unzweifelhaft lässt sich die Klimabewegung für Kapitalstrategien mit Interesse an neuen „grünen“ Anlagemöglichkeiten, an der Abwälzung von Kosten für Krise und fälligem Umbau von Produktionstechnologien, und an der Propagierung von Vereinzelungsideologien („jeder muss sein Konsumverhalten überdenken“) nutzen. Und richtig ist auch: Die Ursachen für die Unzufriedenheit von durchaus relevanten Teilen der Bevölkerung mit ihren Lebensbedingungen sind allesamt Ausprägungen der immanenten Widersprüche des monopolistischen Kapitalismus. Diese Unzufriedenheit bietet damit Anknüpfungspunkte für unseren antimonopolistischen Kampf. Aber – und hier trennen sich die Wege – der Protest, der sich mehr oder weniger[4] spontan gegen offene Grenzen, Klimahype, Verletzung unserer deutschen Souveränität durch die US-Politik, usw. wendet, ist keine Artikulation der vom Kapitalismus verletzten Interessen der Bevölkerung, sondern es ist „der Herren eigner Geist“[5], der in diesem Protest zum Ausdruck kommt.

Diese Differenzierung ist entscheidend! Ich teile die Einschätzung: Wir brauchen uns nicht zu beklagen über das falsche Bewusstsein der Unzufriedenen, die ihren Protest rassistisch äußern. Erst recht brauchen wir nicht – wie „Aufstehen gegen Rassismus“ – ihnen dies vorzuwerfen und sie deswegen hinter eine „rote Linie“ zu verbannen. Aber die Ursachen von Unzufriedenheit sind etwas anderes als das Bewusstsein, welches sich im Protest äußert. Der fatale Fehler der Genossinnen und Genossen, die meinen, in solchem Protest eine Artikulation antimonopolistischer Interessen zu erkennen und uns deswegen eine Annäherung an ihn empfehlen, liegt darin, die Bewusstseinsinhalte, die in diesem Protest zum Ausdruck kommen, den Protestierenden selbst zuzuschreiben. Aber Bewusstsein ist bewusstes Sein. Es erwächst als Widerspiegelung der von der Produktion und Reproduktion des eigenen Lebens bestimmten Realität. Doch Rassismus oder Nationalismus spiegeln nicht – auch nicht ideologisch verfälscht – die Realität der Arbeiterklasse wider, sondern die Herrschaftsinteressen der Monopolbourgeoisie.

Dies nicht zu erkennen führt – in der Konsequenz – dazu, die Frage gering zu schätzen, ob das Bewusstsein der Menschen von ihren Interessen angemessen ist oder nicht. Lediglich ihre Haltung, welche sich in ihrer Praxis zeigt, sei entscheidend. Demnach sei es auch unerheblich, ob die Friedensbewegung von einer leninistischen Analyse der Kriegsgefahr geleitet ist, oder ob sie meint, ein „tiefer Staat“ oder andere sich verschwörende dunkle Mächte seien die Ursache der Kriegsgefahr. Entscheidend sei, ob die Losung „Friede mit Russland“ lautet. Und nein – ich will auch hier keine sektiererische Verengung der Friedensbewegung befürworten. Es stimmt, dass jede Bewegung zu begrüßen, aufzugreifen und zu unterstützen ist, in der Menschen aktiv sind, deren Interessen denen des Monopolkapitals entgegengesetzt sind und deren Kampf sich objektiv gegen die Monopolherrschaft richtet. Aber damit kann uns das Bewusstsein der Mitstreiter doch eben nicht egal sein. Im Gegenteil erfordert unsere Aufgabe den Kampf gegen „der Herren eigner Geist“, weil wir ohne diesen Kampf auch nicht in der Lage wären, unserer Verantwortung für die tatsächliche Ausrichtung der Kämpfe in objektiver Frontstellung gegen die Monopole nachzukommen. Lenin hat in Bezug auf demokratische Kämpfe, bei denen dies nicht gelingt, davon gesprochen, die Menschen würden dann „stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug“ bleiben. Das sollten wir vermeiden.

Sich über diese Fragen mit Genossinnen und Genossen – im wörtlichen Sinn – auseinanderzusetzen, ist schmerzhaft und kann vordergründig auch nicht konstruktiv sein, aber es ist notwendig. Die gemeinsame Arbeit an dieser Zeitschrift ist nicht der geeignete Ort, um diese Differenzen zu überwinden. Hier hemmt der Dissens die Arbeit. Meine Mitarbeit im Herausgeberkreis und der Redaktion werde ich deswegen mit diesem Heft beenden. Dennoch gibt es weder Grund noch Berechtigung dafür, den Anspruch aufzugeben, weiter zu diskutieren und mit guten Argumenten an der Grundlage übereinstimmender Einsichten und Überzeugungen zu arbeiten. Dies bleibt eine Aufgabe, die in der DKP und ihrem Umfeld – zu dem T&P gehört – bewältigt werden muss, um unserer Schwäche entgegenwirken zu können. Wenn es dabei gelingt, unseren Begriff von Hegemonie zu schärfen kann dies sehr konstruktiv dazu beitragen, der erstrebten Einigkeit eine Grundlage zu verschaffen.

 

Quellen und Anmerkungen

[1] LW 31, S.9

[2] siehe z.B. die Formulierung im Leitantrag zum 22. Parteitag „…sind breiteste Bündnisse auch unter Einschluss bürgerlich-antifaschistischer und demokratischer Kräfte einzugehen, ohne dass wir unsere marxistische Analyse und weitergehende Forderungen aufgeben bzw. auf deren Propagierung verzichten.“ oder in Bezug auf die Klimaproteste H.P.Brenner „Keine Verengung in der Bündnispolitik zulassen“, Redebeitrag auf der 11.PV Tagung November 2019, DKP Intern Nr. 06/2019

[3] siehe z.B. den Beitrag von Thomas Lurchi, Johannes Magel und Seta Radin zu „#aufstehen“ in T&P Heft 46.

[4] Mir erschließt sich nicht, warum die Vertreter eines Links-Populismus zwar ein (zu Recht!) waches Auge für die interessierte Beeinflussung etwa der Klimabewegung durch Teile des Kapitals haben, aber die bereits historisch vielfältig belegte Urheberschaft der Monopolbourgeoisie und ihrer Propagandaorganisationen (z.B. Alldeutscher Verband) für rassistische Spaltungsideologien und Nationalismus bei ihrer Sicht auf sich rechts äußernden Protestes vernachlässigen. Soll heißen: eher weniger „spontan“.

[5] so der Titel einer hervorragenden Schrift des deutschen Kommunisten Hans Günther, in dem dieser 1934 die Ideologie des Nationalsozialismus analysierte und die von Dimitroff den Delegierten des VII. Weltkongresses zur Lektüre empfohlen wurde.